Manchmal kommt es darauf an, welcher Unfallhergang der wahrscheinlichste ist. In einem solchen Fall musste nun das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt a. M. entscheiden.
Unfallhergang streitig
Auf der Autobahn stockte der Verkehr, weil die Dreispurigkeit in eine Zweispurigkeit überging. Ein Fahrzeugführer wollte von links in die mittlere Spur wechseln, brach den bereits eingeleiteten Spurwechselvorgang aber ab, weil das Fahrzeug vor ihm auf der mittleren Spur voll abgebremst wurde. Er wechselte nach links zurück. Wie weit er bereits mittig war, ist streitig. Das ihm folgende Fahrzeug fuhr auf und schob ihn auf das Vorderfahrzeug auf. Das war der wahrscheinlichste Unfallhergang.
Kläger war der Eigentümer des vordersten Fahrzeugs. Beklagter war das Büro Grüne Karte e. V. als Quasiversicherer hinter dem Auffahrenden. Von dort wurde vorgetragen, sowohl das Vorderfahrzeug als auch das davor seien von der Mitte nach links gewechselt, ohne zuvor links gefahren zu sein. Am Ende war der Unfallhergang nicht aufklärbar. War der verhinderte Spurwechsler bereits seit Längerem auf der linken Spur, hätte der Auffahrende seinen Abstand daran ausrichten müssen – wenn nicht, dann nicht.
Anwendung des Anscheinsbeweises
Das OLG wandte den Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden an. Dieser ist eine juristische Methode, bei der aus einem typischen Geschehensablauf auf eine bestimmte Ursache oder ein bestimmtes Verhalten geschlossen wird, weil dies nach allgemeiner Lebenserfahrung sehr wahrscheinlich ist. Er erleichtert die Beweisführung, da die beweisende Partei nicht den gesamten konkreten Einzelfall beweise, sondern nur den typischen Sachverhalt darlegen muss.
Hier handele es sich möglicherweise nicht um das typische Geschehen eines Spurwechsels des Vorausfahrenden. Und weil das nicht klar sei, gelte, so das OLG: Stehe nicht fest, ob über das – für sich gesehen typische – Kerngeschehen hinaus Umstände vorliegen, die, sollten sie gegeben sein, der Annahme der Typizität des Geschehens entgegenstünden, stehe der Anwendung des Anscheinsbeweises nichts entgegen. Denn in diesem Fall bleibe dem Gericht als Grundlage allein das typische Kerngeschehen, das ohne besondere Umstände als Basis für den Anscheinsbeweis ausreicht.
Anscheinsbeweis hier nicht widerlegt
Sei also ein Sachverhalt unstreitig, zugestanden oder positiv festgestellt, der die für die Annahme eines Anscheinsbeweises erforderliche Typizität aufweist, muss derjenige, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet werden soll, darlegen und ggf. beweisen, dass weitere Umstände vorliegen, die dem feststehenden Sachverhalt die Typizität wieder nehmen. Er muss den Anscheinsbeweis erschüttern. Das sei im vorliegenden Fall nicht gelungen.
Quelle: OLG Frankfurt a. M., Urteil vom 15.7.2025, 30 U 28/25
Mitgeteilt von Rechtsanwaltskanzlei Herren aus 50321 Brühl

